Mittwoch, 31. Januar 2018

Idles: Kollektive Explosion [Update]

Idles
PULS Indoor Festival, BR Funkhaus, 2. Dezember 2017
(Chuckamuck, Meute, Gurr, Megaloh, The Big Moon u.a.)

Was für ein schöner Zufall: Genau an dem Tag, an dem die Idles in München gastieren, schreibt der Stadt größte Tageszeitung einen Artikel über eine Ausstellung in Frankfurt, genau zu der Zeit, da die Idles durch Deutschland touren, eröffnet dort nämlich eine Ausstellung mit dem Titel „SOS Brutalismus“. Faust auf’s Auge, denn das Debüt der Post-Punk-Kapelle heißt „Brutalism“ und natürlich ist die Band mit ihrem Sound nicht weit entfernt von der Entstehungsgeschichte des besagten Begriffs – Beton Brute, so die französischen Wurzeln des Architekturstils, bezeichnet zunächst einmal die rohe, ungeschönte Form des Materials, von Brutalität ist da noch nicht die Rede. Aber natürlich sind die Assoziationen artverwandt, die beim Betrachten der Kathedralen des Brutalismus in Boston, Wien oder Algier und beim Hören der Musik der fünf entstehen – überwältigend, rabiat, kollossal, und ja, eben auch brutal.



Es ist leicht zu erkennen, daß viele der Gäste das alljährliche Festival nur wegen der weißgewandeten Herren aus Bristol aufgesucht haben. Während nebenan die Hamburger Techno-Brass-Formation Meute das Publikum gehörig in Schwung bringt, herrscht im Saal 2 eher gediegene Langeweile. Chuckamuck holen mit Mühe nur die ersten zweieinhalb Reihen aus der Lethargie, die ach so angesagten Girls von The Big Moon covern schon nach einer Viertelstunde Bonnie Tylers „Total Eclipse Of The Heart“ und werden, was Wunder, auch danach nicht eben mit Beifallsstürmen belohnt. Erst Andreya Casablanca und Laura Lee Jenkins von der Berliner Formation Gurr gelingt der erwartete Turnaround – im Vergleich zu ihrem letzten Auftritt im Frühjahr sind sie noch eine willkommene Spur derber, rotziger geworden, jetzt ist die Menge da, jetzt springt die Moshpit, Ihre abschließende Variation von „Helter Skelter“ kickte folgerichtig um Längen mehr als der bemühte, laue Aufguss der Damen aus London, selbst ein amtliches Crowdsurfing stand am Ende zu Buche. Passt.

Dass es danach noch eine Spur krasser werden würde, ließ sich allein daran erkennen, daß Joe Talbot, Frontmann der Idles, schon während der Umbaupause in angespannter Nervosität die Bühne entlangtigerte, da traute sich selbst die eloquente junge Dame des BR kaum, eine ihrer gefürchteten Anmoderationen zum Besten zu geben – der Mann war ja quasi schon im Sprung. Hinzu kamen hierauf: Schlagmann John Beavis, der rotbärtige Bassist Adam Devonshire (bestens bekannt von seiner legendären Videoperformance aus der Londoner Tate), der irre gute Gitarrist Lee Kiernan, der komplett irre und ebenso gute Gitarrist Mark Bowen – und dann ging er ab, der Punk. Gerade haben die Herren die Auszeichnung zum besten Live-Act der Association of Independent Festivals (AIF) gewonnen und auch wenn man um der Coolness willen mit solch einem Award nicht hausieren geht – schnell wird klar, warum diese Auszeichnung alternativlos war.



Von der ersten Sekunde des (bedauerlich kurzen) Sets an prügelt die Band ihre geballte Energie ungebremst in die Halle. Bowen und Kiernan haben sich offensichtlich entschieden, mehr Zeit vor als auf der Bühne zu verbringen und Devonshire drückt zusammen mit dem Drummer gnadenlos eine Basswelle nach der anderen aus den Boxen. Die johlende Menge nimmt diese dankbar in Empfang, wiegt, zuckt, springt zu Killern wie „Mother“, „Well Done“ oder „1049 Gotho“ – Brexit Stories: „We love the European Union – we miss her so much!“ Exemplarisch der Moment, als Bowen sich ins Parkett setzt und alle im Saal auffordert, es ihm gleichzutun. Die Band hält in ihrem Furor inne, bremst kurz ab, bis auf einen Schlag der Raum explodiert und alle und alles nach oben fährt, mittendrin der verrückte Kerl mit der Gitarre. Eine Intensität, von einer Unmittelbarkeit, die ganz schwer zu toppen ist, man kann nur hoffen, daß sie München bald wieder auf den Tourplan setzen und bis dahin unverletzt bleiben. Best show of the year, word.

Update: Mittlerweile ist es raus - die Idles haben bei Partisan Records angeheuert und auch ihr neues, zweites Album ist auf der Zielgeraden. Das Interview des BR deshalb als Vorgriff und Nachbereitung zugleich.

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